"Ich bin nicht mehr dieselbe, seit ich den Mond auf der anderen Seite der Welt habe scheinen sehen."
- Mary Anne Radmacher -
Ausblick
Es kommt, wie wie wir es geahnt hatten. Wir sitzen im Baulärm fest. Uns ist klar, dieser würde irgendwann aufhören. Es gelingt mir nicht, die Enge, diese Mauer und den Lärm auszublenden.
Während unserer Reise wurde uns immer klarer, dass wir etwas verändern wollen. In Schweden haben wir uns frei gefühlt. Platz, viel Platz, Wälder, Seen und Ruhe. Chris und ich sind uns einig, wir wollen in Schweden leben. Monatelang habe ich es bereits in mein Tagebuch geschrieben, Ende 2022 lebe ich in Schweden. Punkt.
Chris bewirbt sich auf Stellen und hat tatsächlich Vorstellungsgespräche. Es könnte nicht besser laufen. Mit unserem Vermieter handeln wir eine Mietminderung raus, weil wir den Garten tagsüber nicht nutzen können und ständig eingeschränkt sind. Eigentlich ist mein Plan noch eine Weile zu Hause zu bleiben und mir zu überlegen, was ich als nächste tun will und was ich arbeiten möchte. Keine Chance, ich muss raus hier! ich bewerbe mich auf einige Stellen, mit dem Ziel, tagsüber weg sein zu können. Zwei Wochen später stehe ich in einer Asylunterkunft am Zuger See und kümmere mich um ukrainische Flüchtlinge. Ich bin dankbar, einen Job zu haben und unterdessen an meiner Zukunft basteln zu können. Leichtfüssig gehe ich auf Arbeit, denn ich fühle immer noch die Reiseerlebnisse in mir und bei meinen Autofahrten zur Arbeit und nach Hause stelle ich mir vor, ich bin in Schweden unterwegs. Ich bin mit den ABBA`s aufgewachsen. Sie bringen mich immer in eine unbeschwerte Stimmung, wie damals als Kind. Verklärter Blick und rosa Brille auf der Nase. Chris` Bewerbungsgespräche laufen gut, lockere Gespräche, Zuversicht macht sich breit. Ich arbeite unterdessen im Sozialdienst Asyl des Kanton Zug als Sozialarbeiterin.
Zuger See
Die Flut an Arbeit erschlägt mich zusehends. Der erste Arbeitskollege kündigt, dann der nächste, dann die nächste... die anderen und ich übernehmen. Ich arbeite weiter, immer in der Hoffnung, dass ich bald wieder nach Schweden aufbrechen kann. Im Juni 2022 heiraten wir auf der Insel Aero in Dänemark. Ein "magic moment". Wie wir auf die Idee gekommen sind, in Dänemark zu heiraten, erfährst Du hier. Auf der Rückreise machen wir einen Abstecher nach Malmö, die einzige Stadt, die wir auf unserer Rundreise nicht besucht hatten, Denn Chris befindet sich zu der Zeit in Gesprächen mit einem Arbeitgeber in Malmö. Malmö gefällt uns sehr, aber die Umgebung ist nicht das Schweden, welches wir so ins Herz geschlossen haben. Felder, endlose Felder, kaum Wälder und Seen. Ich bin ein wenig enttäuscht, denke aber, es wird schon werden.
Aber der Krieg ist immer noch, Er beginnt uns Angst zu machen. Unsere Vorfahren haben Krieg erlebt, Meine Grosseltern und Eltern haben Schlimmes erlebt, mussten hungern. Sie waren Vertriebene, während mein Grossvater in Sibirien im Internierungslager war und dort auch starb, was wir aber erst 1987 erfahren haben. Dieser Krieg macht uns einfach Angst. Chris bekommt ein sehr gutes Stellenangebot in Malmö, ausgerechnet in Malmö. Zu gut, um wahr zu sein und doch ist es wahr. Wir wissen nicht mehr aus noch ein, Unsicherheit macht sich breit. Wir waren festentschlossen und nun? Wir suchen zwei Coaches auf, sprechen Tag und Nacht darüber, weinen, analysieren, wägen ab und sagen schlussendlich ab. Ich habe schlaflose Nächte.
Wir treten die Flucht nach vorn an, besichtigen ein Haus am Lago Maggiore und eines im Kanton Aargau. Das Haus in Bieno/ Italien gefällt uns sehr, aber wir hätten uns verschulden und bis zur Pensionierung voll arbeiten müssen. Das Haus im Kanton Aargau ist schön, aber es ist eng eingebettet in einem Dorf in einer Kurve mit viel Verkehr. Nein, das wollen wir nicht.
Dann kommt das grosse Loch. Trauer. Ich leide unglaublich unter der Absage. Für was war sie gut, frage ich tausend mal. Vielleicht war sie einfach für nichts gut. Es war kein Herzensentscheid, es war ein reiner Vernunftentscheid. Es fiel uns wie Schuppen von den Augen als für bei einer langen Autofahrt das Buch "Machen Sie doch, was Sie wollen." von Maja Storch gehört haben.
Ich arbeite weiter und nichts ist wie vorher. Die Autofahrten zur Arbeit bringen mich zum Weinen nicht mehr zum Träumen. Ich will nichts mehr von Schweden hören. Ich lösche alles Youtube - Kanäle, die mich bis anhin immer inspiriert haben. Es scheint endgültig zu sein, dass ich jetzt dieser Arbeit nachgehe und mein Leben in der Schweiz verbringen werde. Klingt nach Jammern auf hohem Niveau. Aber ich leide, ich bin ausgebrannt von der Arbeit und der Coronazeit. Ich bin oft sehr traurig und ich verliere Energie. Chris findet sich besser damit ab. Aber es tut ihm weh, mich so zu sehen. Und auch er leidet unter dem Entscheid.
Wir machen weiter in unseren Jobs, ich bemühe mich so gut ich kann, aber die Last an Arbeit nimmt immer mehr zu. Es kommt zu weiteren Kündigungen. Ich schiebe meine eigene Kündigung vor mir her, weil ich nicht weiss, was ich sonst tun soll und ich Angst habe, meine Kollegen im Stich zu lassen. Was soll ich tun? Wir machen wunderschöne Ferien in Südfrankreich. Viele würden uns beneiden darum, aber es ist nicht so wie sonst. Ich leide unterdessen an Stresssymptomen, mein Tinnitus ist wieder da und sagt mir ganz deutlich: So kann es nicht weitergehen. Ich schleppe mich durchs Leben bis Weihnachten und im Januar 2023 kündige ich dann endlich.
Das ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Chris wird mir später folgen. Aber dazu komme ich noch.
Comments